Die Rückkehr der militärischen Logik in die europäische Politik angesichts des russischen Angriffs auf die Ukraine
— Von Dr. phil. Sascha Arnautović, Politikwissenschaftler —
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Viele Europäer(innen) haben lange Zeit geglaubt, dass in Europa auf unbestimmte Zeit Frieden herrschen würde. Der Angriffskrieg russischer Streitkräfte auf direkten Befehl aus dem Kreml auf die Ukraine am 24. Februar 2022 hat uns Europäer(innen) und Deutsche nun eines Besseren belehrt. Es gibt leider nicht den „ewigen Frieden“, von dem viele Zeitgenossinnen und Zeitgenossen immer noch irrtümlich träumen. Ein solcher ist realpolitisch reines Wunschdenken. Unsere Welt ist heute fragiler, der Friede zunehmend brüchiger geworden. Es reicht eine einzelne Großmacht wie Russland unter Putin aus, um eine veritable Krise in der europäischen Nachbarschaft auszulösen. Aber: Diesen Zustand allein zu beklagen und das Leid in der Ukraine – von der Seitenlinie aus – zu betrachten und zu kommentieren, reicht bei Weitem nicht aus! Es gilt nun, die sicherheitspolitischen Implikationen dieses Krieges in der Ukraine zur Kenntnis zu nehmen, aber daraus auch die notwendigen Schlüsse für die Europäische Union (EU) und die Bundesrepublik Deutschland (BRD) als zentraler EU-Akteur zu ziehen – und das möglichst schnell und konsequent.
Es stellt sich einmal mehr die Frage, ob wir uns in Anbetracht der alarmierenden Lage in der und um die Ukraine in Europa und Deutschland weiterhin leisten können, uns militärischer Verantwortung zu entziehen. Ohne jeden Zweifel: Krieg kann niemals die „erste Wahl“, sondern sollte stets die Ultima Ratio (= letzter Ausweg, letztes Mittel) sein. Selbstverständlich sollten erst alle Mittel der Diplomatie und des Krisenmanagements ausgeschöpft sein, bevor man sich aus dem Moment heraus und aufgrund emotionaler Betroffenheit auf einen Krieg einlässt, so menschlich verständlich eine solche Reaktion auch immer sein mag. Dennoch muss uns allen klar sein, dass wir uns den Luxus der militärischen Enthaltsamkeit nicht mehr länger leisten können – dies gilt sowohl für die EU als auch für Deutschland.
Welche sicherheitspolitischen Schlüsse aus dem aktuellen Fallbeispiel Ukraine gilt es konkret zu ziehen? Das ist die jetzt immer wichtiger werdende Frage im Hinblick auf „EU-Europa“ und die BRD. Hierzu möchte ich wie folgt Stellung nehmen:
Es reicht längst nicht mehr aus, sich ausschließlich auf US-amerikanische Sicherheitsgarantien zu verlassen. Es sollte verstanden werden, dass sowohl die Mitgliedstaaten der EU als auch europäische NATO-Staaten wie Deutschland zukünftig noch mehr in die nationale Sicherheit und Verteidigung investieren müssen. Nur so kann sichergestellt werden, dass wir in Europa – ganz unabhängig vom Handeln oder Nichthandeln der USA – in der Lage sind, unsere Landes- und Grenzverteidigung wirksam zu organisieren und dadurch resilienter zu werden gegenüber etwaigen sicherheitspolitischen Bedrohungen. Selbstverständlich ist es für ein historisch derart belastetes Land wie Deutschland schwierig und stellt eine Gratwanderung dar, über militärische Fragen Debatten zu führen. Angesichts zunehmender Bedrohungen auch innerhalb Europas werden solche jedoch zusehends unausweichlich. Es wäre daher wichtig, dass sich gerade Politikwissenschaftler(innen) in Verbindung mit Bundeswehrangehörigen, Politikerinnen und Politikern solchen unangenehmen Fragen auf öffentlicher Bühne stellen, damit auch die breite Öffentlichkeit an derartigen Debatten teilnehmen kann. Es ist niemanden damit geholfen, Tabuthemen wie „Militäreinsätze“ zu meiden wie der Teufel das Weihwasser. Vielmehr sollte es darum gehen, kontrovers über das Thema „Militärische Verantwortung“ zu diskutieren.
Gerade Deutschland als wichtiger europäischer und internationaler Player muss hier allmählich eine andere Gesprächskultur entwickeln und sich heiklen Fragen oder Themen stellen. Die kürzlich von der Ampel-Regierung beschlossene „Zeitenwende“ in der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik, die längst überfällig war, sollte aber nicht nur bei Fragen der Ausstattung sowie bei finanziellen und personellen Aspekten der Bundeswehr stehen bleiben, sondern zukünftig mehr Raum für kontroverse Auseinandersetzungen über militärische Beiträge Deutschlands lassen. Die vornehme Zurückhaltung in sicherheits- und verteidigungspolitischer Hinsicht kann sich die Bundesrepublik nicht dauerhaft leisten, will man sich auf Augenhöhe mit europäischen Staaten wie Frankreich oder Großbritannien bewegen. Mehr Verantwortung bedeutet nicht nur in diplomatischer, finanzieller und politischer Hinsicht, sondern langfristig auch mit Blick auf robuste Militäreinsätze. Die deutsche Politik muss endlich erwachsen werden und sich den Realitäten der Welt im 21. Jahrhundert, so wie sie sich ungeschminkt darstellt, stellen. Militärische Zurückhaltung kann daher nicht immer das Gebot der Stunde sein. Die Ukraine macht uns das derzeit schmerzlich bewusst. Wir müssen darauf nun die angemessenen und zeitgemäßen Antworten finden – und zwar ohne Denkschranken und Scheuklappen!
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